"Zu viele Kinder bleiben bei uns auf der Strecke"

UllaWessels, Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbunds Ortsverband Würselen-Als-Herzogenrath. Foto: Christoph Simon

Ulla Wessels ist DiplomPädagogin und seit 25 Jahren Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbunds Ortsverband Würselen-Alsdorf-Herzogenrath. Im Interview mit David Grzeschik spricht Wessels über den Zustand der Kinderrechte in unserer Gesellschaft. Sie benennt, welche Defizite ihrer Meinung nach vorliegen und betont ihre Haltung zu der Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz.

Frau Wessels, heute ist internationaler Kindertag. Manch einer wird sich nun vielleicht wundern: Ist nicht auch am 20. September Kindertag?

Ulla Wessels: Der 1. Juni ist ein Kindertag, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts ursprünglich zunächst in sozialistischen Ländern etabliert hat. Wir als Kinderschutzbund feiern tatsächlich den 20. September, das ist auch der Tag, der von UNICEF ausgerufen wurde. Aber es schadet nicht, gerade in Zeiten wie diesen zweimal Kindertag zu feiern.

Warum braucht es einen Kindertag überhaupt?

Wessels: Es ist immer wieder wichtig und notwendig, auf Belange, Rechte und Bedürfnisse von Familien und insbesondere Kindern aufmerksam zu machen. Es gibt Vieles, was gut läuft, aber es gibt eben auch Vieles, was nicht so gut läuft. Da muss man immer hinschauen, und deshalb ist ein Kindertag zur Erinnerung daran etwas sehr Schönes.

Mit welchem Gefühl schauen Sie in diesem Jahr auf den Kindertag vor dem Hintergrund des andauernden russischen Angriffs und Krieges in der Ukraine?

Wessels: Unfassbar viele Familien und Kinder leiden und werden traumatisiert aus diesem Krieg herausgehen. Das Leid der Kinder in solchen Zeiten ist unermesslich. Zudem wissen wir ja auch, dass solche Traumata in nachfolgende Generationen transportiert werden.

Lassen Sie uns über den Zustand der Kinderrechte in der deutschen Gesellschaft reden. Wie steht es um diese bei uns?

Wessels: Es fällt mir schwer, das so grundsätzlich zu bewerten. Ich glaube, dass es für das Thema Kinderrechte durch die Arbeit unterschiedlichster Familienverbände und auch durch den Kinderschutzbund in den vergangenen Jahren eine große Aufmerksamkeit gegeben hat. Wenn ich mir auf der anderen Seite aber die Missbrauchsskandale anschaue, die in den letzten Jahren zum Teil ans Licht gekommen sind, finde ich es schwierig, diese Frage klar zu beantworten.

In welchen Bereichen haben sich in den vergangenen 20 Jahren die meisten Dinge verbessert?

Wessels: Es ist schon so, dass gerade durch die Missbrauchsvorfälle in den Institutionen Politik und Verwaltung sehr hellhörig geworden sind. In vielen Organisationen haben Schutzkonzepte heute einen hohen Stellenwert und es gibt Schulungen zu den Themen. Unsere Gesellschaft ist viel sensibilisierter geworden als sie das früher war.

Welche Aktionen hat der Kinderschutzbund zum Kindertag geplant?

Wessels: Unser traditioneller Feiertag ist der 20. September, das behalten wir auch diesmal bei. Viele Jahre haben wir zum Kindertag eine große gemeinsame Veranstaltung gemacht. Seit Corona sind wir davon abgerückt und machen in jeder Einrichtung etwas. Das wollen wir auch in diesem Jahr so beibehalten. Wir werden für die Kinder in den Einrichtungen Angebote machen, bei denen es thematisch unter anderem um Kinderrechte und Kinderarmut gehen wird. 

Wo sehen Sie beim Thema Kinderrechte heute die größte Baustelle?

Wessels: Was mich sehr umtreibt, ist das Thema Kinderarmut. Ich habe das Gefühl, dass wir hier auf der einen Seite viel Wissen haben, auf der anderen Seite aber nicht vom Diskutieren ins Handeln kommen. Bei uns im Nordkreis ist Kinderarmut weit verbreitet, hier wird zu wenig getan. Eigentlich weiß jeder, was zu tun wäre, trotzdem schaffen wir es nicht, in ausreichendem Maß zu handeln.

Wenn jeder weiß, was zu tun wäre: Wieso scheitert dann die Umsetzung?

Wessels: Es kostet Geld. Aber ich kann nur an die Politik appellieren: Ein Kind, das nicht gefördert wird und später dann vom Staat abhängig wird, kostet den Staat eines Tages viel mehr als ein Kind, das gefördert wurde und es schafft, sein Leben verantwortungsvoll und aus eigener Kraft zu meistern. Solche traurigen „Karrieren“ könnten wir verhindern, und es würde sogar Geld sparen. Mir ist es ein Rätsel, wie man es in Kauf nehmen kann, so viele Kinder auf der Strecke zu verlieren. Das ist ein Armutszeugnis für unsere reiche Republik.

Also braucht es Geld und Personal?

Wessels: Exakt. Wenn unsere Einrichtungen besser finanziert wären und wir genügend Personal hätten, dann wäre das sehr gut. Denn über uns kommt das Geld da an, wo es hingehört: Bei den Kindern. Wir bieten Unterstützung bei den Hausaufgaben an und ermöglichen Kindern aus ärmeren Haushalten die Teilhabe an kulturellen Dingen, die sie sonst nicht erleben würden.

Wie haben sich die Corona-Beschränkungen der vergangenen Monate und Jahre auf Kinder ausgewirkt?

Wessels: Viele Kinder, die keine digitalen Medien zu Hause haben, haben natürlich tiefe Einschnitte in ihre Rechte auf Bildung erlebt. Aber das ist nicht alles. Dadurch, dass vieles eingeschränkt wurde – Kinder nicht in die Schule konnten oder in Vereinen waren – mussten sie auf ihre „kleinen Kinderrechte“ verzichten. Das heißt, dass Kinder wegen der Kontaktbeschränkungen zum Beispiel nicht mehr ohne Weiteres entscheiden konnten, mit wem sie spielen.

Welchen Stellenwert schreiben Sie Klimaschutz hinsichtlich der Kinderrechte zu? Passiert auf diesem Gebiet Ihrer Meinung nach genügend?

Wessels: Klimaschutz ist die absolute Lebensgrundlage, das ist vollkommen klar. Nur auf einem nachhaltigen Planeten können zukünftige Generationen leben. Ich persönlich finde es etwas mühselig, was da gerade auf politischer Ebene passiert. Langsam kommen wir glaube ich auf den richtigen Pfad. Aber es geht alles ein bisschen langsam.

Unter der vorherigen Bundesregierung ist die Verankerung von Kinderrechten im deutschen Grundgesetz 2021 gescheitert. Bedauern Sie dies?

Wessels: Natürlich. Ich glaube, dass Kinderrechte heute einen ganz anderen Stellenwert hätten, wenn sie im Grundgesetz verankert wären. Die Außenwirkung wäre eine andere gewesen.

Fordern denn auch Sie einen neuen Anlauf bei diesem Thema?

Wessels: Da bin ich verbandstreu! (schmunzelt) Der gesamte Kinderschutzbund fordert das, das haben wir alle auf unseren Fahnen stehen – und ich persönlich stehe natürlich auch voll hinter diesem Vorschlag.


Kinderrechte ins Grundgesetz

Die UN-Kinderrechtskonvention gilt seit 1992 in Deutschland verbindlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Die Bundesrepublik hat sich somit dazu verpflichtet, die Rechte von Kindern zu schützen und zu fördern. Das Kindeswohl muss bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, im Vordergrund stehen. Als Kind gilt in Deutschland jeder Mensch unter 18 Jahren. Trotz dessen sind die Kinderrechte noch nicht im Grundgesetz verankert. Mit dem Koalitionsvertrag für die aktuelle Legislaturperiode unternimmt die Bundesregierung in diesem Jahr einen weiteren Versuch für diesen Schritt. Im Frühjahr 2021 konnte im parlamentarischen Verfahren keine interfraktionelle Einigung über die Änderung erzielt werden. Für eine Grundgesetzänderung ist eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. (aha)